Kapitel 1.5.

1. Rund um den IQ-Test – ein Erfahrungsbericht

1.5. Wut auf die Vergangenheit

Sie beschäftigte sich mit ihrer Kindheit und versuchte, sich zu erinnern. Ihre Erinnerung ließ sie aber oft im Stich, da sie vieles verdrängt hatte. Bei dieser Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wollte sie vor allem herausfinden, welche Reaktionen sie auf welche Aktionen gezeigt hatte. Sie schaute sich Bilder und Filme an. Sie las alte Briefe, die sie an ihre Eltern geschrieben hatte. Das half. Sie sah sich in ihrer Kindheit, und die Erinnerungslücken wurden kleiner. Dabei kam etwas zum Vorschein, was sie lieber nicht geweckt hätte. Es wuchs eine Aggression gegen alle, mit denen sie seit ihrer Kinderzeit in Kontakt gekommen war. Alle stellte sie in Gedanken in den Gerichtssaal und warf ihnen vor, sie nicht so behandelt zu haben, wie sie es verdient hätte. Immer wieder ging sie Situationen durch, und sie erinnerte sich nur noch an solche, die ihr wehtaten, die sie tief trafen. Ihre Wut konnte sie nicht ableiten – wohin nur damit? Die Situationen aus ihrem ersten Lebensabschnitt konnte sie nicht mehr rückgängig machen. Mit dieser Erkenntnis musste sie leben.

Trotzdem meldete sich die Wut regelmäßig. Sie stellte sich immer wieder die Frage, ob sie nicht etwas hätte tun können, das die anderen dazu gebracht hätte, ihre Hochbegabung zu erkennen. Sie ging Situationen zu Hause, in der Schule und bei der Arbeit durch. Sie suchte den Punkt, an dem sie sich falsch verhalten hatte, und im nächsten Moment meldete sich wieder die Wut auf alle anderen. Ihr Umfeld hätte sie fördern und fordern müssen! Sie hätten sie nicht links liegen lassen dürfen! Sie hätten sich mit ihr beschäftigen müssen, und schon wäre ihr Leben glücklicher verlaufen. Aber nein, es war keiner da, der etwas erkannt hatte: kein Onkel und keine Tante, kein Nachbar und kein Freund. Keiner hatte gemerkt, wie einsam und traurig sie war. Stattdessen wurde sie von allen beschimpft, weil sie nicht der Norm entsprach. Warum hatten die anderen sie nicht so akzeptiert, wie sie war?

Je mehr sie sich mit ihrer Kindheit auseinandersetzte, desto wütender, aber auch trauriger wurde sie. Sie erinnerte sich an ihre damalige Einsamkeit, die niemand mitbekam, weil sie sie nicht zeigte: Es verstand sie keiner. Jeder nörgelte an ihr herum und erwartete Dinge von ihr, die sie nicht leisten konnte. Sie fühlte sich als Versagerin.

Aber was konnte sie machen? Sie schaute sich die Situationen an und überlegte, was genau passiert war. Sie erkannte die Schwachstellen und suchte diese Situationen nun in der Literatur. Auf diese Weise war sie in der Lage, sie im Nachhinein zu analysieren und zu erklären. Das half ihr, mit ihrer Wut umzugehen, und linderte sie.